Als 1974 ein Modellprojekt zu Tagesmüttern in Deutschland an den Start ging, sah das die Bundesrepublik ganz schön kritisch: „Dahin geben nur Rabenmütter ihr Kind“, dachten sich viele. Zum 50. Geburtstag der Kindertagespflege sieht das ganz anders aus: U3-Betreuung ist beliebter denn je. Auch in Lippstadt sind in den letzten fünf Jahren so viele Kinder wie nie zu Tagesmüttern und -vätern gegangen.
Der Patriot, vom 17.04.2024 von Hannah Löseke
Hanne ist mit ihren 15 Monaten fast schon ein alter Kindertagespflege-Hase. Schon ihr halbes Leben ist sie eins der Esbecker Dorfkinder: Seit sie sieben Monate alt ist, verbringt sie drei Vormittage pro Woche in der Großtagespflege. Jeden Tag nach dem Frühstück geht’s für die Kinder dort mindestens eine Stunde raus – in Matschklamotten in den Garten. Für ihre Mama Lena Hermes eine wunderbare Sache: „Dann habe ich die Gewissheit, dass sie morgens schon ‘ne Runde draußen war.“
Brigitte-Artikel war der Anstoß für Tagesmütter
Die Zeitschrift Brigitte war’s, die den ersten Schritt zur Kindertagespflege in Deutschland gemacht hat: Die berichtete 1974 zu einem neuen Berufsbild in Schweden, den „Dagmamas“ (Tagesmütter). Das war Anstoß fürs erste Modellprojekt „Tagesmütter“, das von 1974 bis 1978 vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) durchgeführt wurde. Den 50. Geburtstag der Kindertagespflege in Deutschland möchte der Lippstädter Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) nutzen, um darauf überhaupt aufmerksam zu machen – und hat zum Pressetermin geladen.
Der Weg bis zum Goldjubiläum war schwer, weiß Dorothee Großekathöfer vom SkF. Im Westdeutschland der 70er Jahre war man überzeugt, dass man Kinder nur im Notfall in die Krippe gibt, galt sie doch als schrecklicher Ort der Kinderbetreuung. Eine intensive kinderpsychologische Untersuchung im Rahmen des Modellprojekts zeigte aber, dass der Großteil der Kinder weniger ängstlich und gehemmt war als Familienkinder. Sie waren eher neugierig und offen für Spielangebote. Die Beziehung zur Mutter war laut Bundesverband für Kindertagespflege durch die Betreuung bei der Tagesmutter nicht beeinträchtigt. Allerdings: Empfohlen wurde, junge Kinder nicht zu viele Stunden am Tag fremdbetreuen zu lassen.
Klar, die Zeit hat sich verändert. „Familienmodelle stellen sich anders auf“, weiß Dorothee Großekathöfer. Der Einklang von Familie und Beruf ist heute wichtig. Lena Hermes wollte zum Beispiel möglichst früh wieder in ihren Beruf als Grundschullehrerin einsteigen. Hanne hat sie deshalb noch in der Schwangerschaft bei den Dorfkindern angemeldet. „Das war für mich schon ein bisschen komisch, das ungeborene Kind da anzumelden, ohne zu wissen, was denn da raus kommt und ob es da Bock drauf hat.“ Der Umgang mit den Kindern und dass so viel Wert auf Gemeinschaft und Bio-Essen gelegt wird, das hat sie überzeugt. „Mir war klar, dass ich das gerne wollte, mir war nur nicht klar, ob’s klappt.“ Hat’s aber – und deshalb stocken sie jetzt ordentlich Stunden auf: Statt 15 Stunden geht Hanne ab Sommer für 25 Stunden zu den Dorfkindern, „weil wir merken, dass sie sich da so wohlfühlt“.
Auch heute zum Teil noch Vorurteile
Vorurteile sind Lena Hermes aber trotzdem begegnet. Gar nicht so sehr von ihrer eigenen Familie, obwohl sie da zunächst Bauchschmerzen hatte, aber von außen, erzählt sie. „Oh, okay“, sei als Reaktion häufig gekommen. „Da hatte ich schon das Gefühl, ich muss das erklären.“ Im Endeffekt sei es aber „gar nicht so schlimm“ gewesen. Anders als bei Kristina, die ihren Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte. Ihre Tochter Frida geht zur Großtagespflege, seit sie anderthalb ist, Kristina ist aber noch in Mutterschutz. „Für mich ist das super“, sagt sie. Sie sei durch die drei Stunden, die sie morgens dadurch hat, entspannt und Frida auch. Von außen käme aber häufig auch der Satz: „Hätte ich damals auch die Chance gehabt, hätte ich’s genauso gemacht.“ Und dazu kommt die Rechtfertigung vor sich selbst, betont Michi Arlt, deren Sohn Leno (4) auch zu einer Tagesmutter gegangen ist. „Aber dann habe ich gesehen, wie gut ihm das tut und dann geht’s am Ende besser.“
Denn die Vorteile liegen für die Eltern auf der Hand: die kleine Gruppengröße, die Flexibilität im Stundenmodell, die feste Betreuungsperson. „Das ist eine super Vorbereitung“, findet Kristina, die es ihr leichter macht, Frida später in den „großen“ Kindergarten zu geben. Mio hätte sogar einen Platz in der U3-Gruppe eines Kindergartens haben können, erzählt sein Papa Kersten Stracke. Aber wie seine große Schwester Lotta geht er zur Tagesmutter. „Mio soll in einer kleinen Gruppe groß werden.“
Tagespflege wird immer beliebter
Aber: Es wäre viel schöner, „wenn diese schöne Welt, die sich hinter der Kindertagespflege verbirgt, noch ein bisschen leichter zu finden wäre“, findet Kristina. Gerade mit dem Begriff Kindertagespflege könnten viele nichts anfangen, Infos gebe es vor allem über Mundpropaganda. Und beim SkF.
Der SkF erfasst seit 2006 auch die Zahlen in Lippstadt. Sechs Kinder gingen damals in die Kindertagespflege. 2007 waren es schon 14 Kinder, 2008 31 und 2009 62. Die Anzahl der Tagespflegepersonen wurde 2010 zum ersten Mal erfasst: Damals betreuten 25 Tagespflegepersonen insgesamt 78 Kinder. Die Zahl wuchs stetig: 2001 knackte sie die 100er-Marke mit insgesamt 123 Kindern, mehr als 200 Kinder waren es erstmals 2019 (210). Auch die Zahl der Tagespflegepersonen wächst: Derzeit sind es 56 Personen, die 193 Kinder betreuen. Die Höchstzahl der Tagespflegekinder gab es 2020 – damals waren es 214.
+++++ „Neue Abenteuer“: herrH schreibt Song über Kindertagespflege +++++
Eigentlich ist Simon Horn alias herrH gar nicht so der Typ für Auftragsarbeiten: „Ich bin eher Pippi Langstrumpf“, sagt er. Er macht das, was ihm gefällt. Als ihn letztes Jahr der Landesverband Kindertagespflege NRW aber fragte, ob er zum 50. Geburtstag einen Song schreiben könnte, „konnte ich nicht anders und habe direkt ja gesagt“. Denn: „Das Ding hat mich voll erwischt.“ Schließlich ist er großer Fan der Kindertagespflege – vor allem „die Chance auf ganz viel Individualität, liebevolle Begleitung der ersten eigenen Schritte ohne die Hände von Mama und Papa“, die kleinen Gruppen (in der Regel fünf Kinder) und die feste Bezugsperson, die die Tagesmutter ist, überzeugen den Lippstädter Kinderliedermacher. Deshalb geht sein Sohn auch zu einer „ganz tollen Tagesmutter“. „Das ist als Zwischenschritt für uns und für unser Kind ganz, ganz passend.“ Der Song ging ihm ratzfatz von der Hand: „Im Grunde war der schon fertig.“ Nur den Beat musste er bauen und an der Melodie feilen. Im Text beschreibt er nämlich genau das, was er jedes Mal erlebt, wenn er seinen kleinen Sohn zu seiner Tagesmutter bringt oder ihn abholt. „Neue Abenteuer“ hat er ihn genannt, weil „das genau das ist, was ich beobachtet habe, was da jeden Tag passiert“. Ganz zufällig genau wie das Motto der Aktion. Dem möchte er zu mehr Öffentlichkeit und Anerkennung verhelfen. Dem Landesverband Kindertagespflege gefiel’s auch sofort. Und: „Seine“ Tagesmutter hat der Song ebenfalls „voll berührt“. Am Montag wird er in Düsseldorf offiziell vorgestellt.